ACHTUNDZWANZIG
Ich bin nicht zum Kunstunterricht gegangen, sondern gleich nach der Mittagspause verschwunden. Nein, stimmt nicht. In Wahrheit bin ich mitten in der Mittagspause abgehauen. Sekunden nach meiner entsetzlichen Begegnung mit Roman bin ich (verfolgt von einem endlosen Chor von Freak!-Rufen) zum Parkplatz gerannt, in mein Auto gestiegen und davongerast.
Ich musste weg von Roman. Musste Distanz zwischen mich und sein gruseliges Tattoo legen - die kunstvolle Ouroboros-Schlange, die immer wieder auftaucht und dann wieder verschwindet, genau wie die an Drinas Handgelenk.
Das untrügliche Symbol, das Roman als bösartig gewordenen Unsterblichen ausweist - genau wie ich die ganze Zeit vermutet hatte.
Und obwohl Damen mich nicht vor ihnen gewarnt hat, ja nicht einmal von ihrer Existenz wusste, ehe Drina bösartig wurde, kann ich immer noch nicht fassen, dass ich so lange gebraucht habe, bis ich es kapiert hatte. Ich meine, auch wenn Roman isst und trinkt, auch wenn seine Aura sichtbar ist und seine Gedanken lesbar sind (na ja, jedenfalls für mich), begreife ich jetzt, dass alles reine Fassade war. Genau wie die Häuser der Filmkulissen in Hollywood, die mit großem Aufwand errichtet wurden, damit sie wie etwas aussehen, was sie nicht sind. Und genau das hat Roman getan - er hat gezielt die Fassade eines fröhlichen, unbeschwerten jungen Typen aus England mit einer hell leuchtenden Aura und hemmungslos lüsternen Gedanken projiziert, während er in seinem tiefsten Inneren alles andere als das ist.
Der echte Roman ist düster.
Und böse.
Und gefährlich.
Und alles Weitere, was insgesamt schlecht ergibt. Aber noch schlimmer ist die Tatsache, dass er vorhat, meinen Freund umzubringen, und ich nach wie vor nicht weiß, warum.
Denn das Motiv war das Einzige, was ich bei meinem kurzen und verstörenden Besuch in die Abgründe seiner Gedanken nicht gesehen habe.
Und das Motiv spielt eine wichtige Rolle, falls ich je gezwungen sein sollte, ihn umzubringen, da ich unbedingt auf das richtige Chakra zielen muss, um ihn ein für alle Mal zur Strecke zu bringen. Dass ich sein Motiv nicht kenne, könnte bedeuten, dass ich es nicht schaffe.
Ich meine, soll ich auf das erste Chakra oder Wurzel-chakra - wie man es gelegentlich nennt - zielen, das Zentrum für Wut, Gewalt und Gier? Oder vielleicht aufs Nabel-chakra oder Sakralzentrum, wo Missgunst und Eifersucht wohnen? Aber ohne zu wissen, was Roman antreibt, wäre es viel zu leicht, das falsche zu treffen. Was nicht nur zur Folge hätte, dass er nicht tot wäre, sondern ihn wahrscheinlich außerdem unfassbar wütend machen würde. Darüber hinaus stehen noch sechs weitere Chakren zur Auswahl, und im Moment fürchte ich, er würde es merken.
Außerdem - wenn ich Roman zu früh umbringe, schadet es mir bloß, denn dann würde er das Geheimnis, was er Damen und den anderen aus unserer Schule angetan hat, mitnehmen. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Ganz zu schweigen davon, dass ich sowieso kein großer Fan davon bin, Leute umzubringen. Die einzigen Male, dass ich in der Vergangenheit jemals handgreiflich geworden bin, waren, als ich nur die Wahl zwischen Kämpfen und Sterben hatte. Sowie mir klar wurde, was ich Drina angetan hatte, habe ich gehofft, so etwas nie wieder tun zu müssen. Denn obwohl sie mich schon viele Male zuvor umgebracht hat, obwohl sie gestanden hat, meine gesamte Familie - meinen Hund eingeschlossen - getötet zu haben, lindert das mein schlechtes Gewissen nur geringfügig. Zu wissen, dass ich allein für ihren endgültigen Abgang verantwortlich bin, verschafft mir schwere Schuldgefühle.
Da ich nun mehr oder weniger wieder da stehe, wo ich begonnen habe, beschließe ich, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Ich biege am Coast Highway rechts ab und fahre zu Damen, um die nächsten zwei Stunden, solange sie alle noch in der Schule sind, dazu zu nutzen, in sein Haus einzudringen und mich gründlich umzusehen.
Ich fahre am Wächterhäuschen vor, winke Sheila und halte aufs Tor zu. Ganz selbstverständlich gehe ich davon aus, dass es sich vor mir öffnet, und muss hart auf die Bremse treten, um einen Frontalcrash zu vermeiden, als es geschlossen bleibt.
»Entschuldigung! Entschuldigung!«, brüllt Sheila und stürmt auf mein Auto zu, als wäre ich ein Eindringling, als hätte sie mich noch nie gesehen. Dabei war ich in Wirklichkeit bis letzte Woche praktisch jeden Tag hier.
»Hey, Sheila.« Ich lächele sie nett und freundlich und absolut harmlos an. »Ich will nur kurz zu Damen rauffahren, also wenn Sie bitte das Tor aufmachen würden, dann bin ich gleich wieder weg und ...«
Sie sieht mich mit schmalen Augen an, die Lippen zu einer grimmigen Linie zusammengepresst. »Ich muss Sie bitten, sich zu entfernen.«
»Was? Warum denn?«
»Sie stehen nicht mehr auf der Liste«, sagt sie, die Hände streng in die Hüften gestemmt. Ihr Gesicht zeigt nicht die geringste Spur von Bedauern nach all dem monatelangen Lächeln und Winken.
Ich lasse ihre Worte auf mich wirken.
Ich stehe nicht mehr auf der Liste. Ich stehe nicht mehr auf der Liste der erwünschten Besucher. Stattdessen stehe ich auf der schwarzen Liste oder wie auch immer das heißt, wenn einem auf unbestimmte Zeit der Zugang zu einer dieser wunderbaren bewachten Wohnsiedlungen verwehrt wird.
Das wäre an sich schon schlimm genug, aber den offiziellen Laufpass auch noch von Big Sheila überreicht zu bekommen statt von meinem Freund selbst, macht alles noch viel schrecklicher.
Ich sehe auf meinen Schoß hinunter und zerre so brutal am Schalthebel, dass er beinahe abbricht. Dann schlucke ich schwer und sehe sie an. »Tja«, sage ich. »Wie Sie offenbar schon wissen, haben Damen und ich uns getrennt. Aber ich wollte nur kurz hochfahren und ein paar von meinen Sachen holen, denn wissen Sie« - ich mache meine Tasche auf und fasse hinein -, »ich habe immer noch den Schlüssel.«
Ich hebe ihn hoch und sehe zu, wie die Mittagssonne auf das goldfarben schimmernde Metall trifft und sich darin spiegelt, von meiner Demütigung zu schockiert, um vorherzusehen, dass sie die Hand ausstrecken und ihn mir wegschnappen würde.
»Und jetzt bitte ich Sie höflich, das Gelände zu verlassen«, sagt sie und stopft den Schlüssel tief in ihre Hemdtasche, wo seine Form sich durch den Stoff abzeichnet, der sich über ihre gigantischen Brüste spannt. Sie lässt mir kaum genug Zeit, um den Fuß von der Bremse aufs Gaspedal zu stellen, ehe sie massiver wird. »Los jetzt. Fahren Sie. Ich will es nicht zweimal sagen müssen.«